Freitag, 7. Dezember 2007

Mit Ingo Schulze im Wald

Ingo Schulze, der „33 Augenblicke des Glücks“ und andere Bücher geschrieben hat, ist ein raffinierter Erzähler. Nie weiß ich bei ihm, ob die Geschichte, die er erzählt, eine wirklich erlebte oder weitgehend eine erfundene Geschichte ist. Er schreibt oft mit einem rührend echt klingenden Ich, streut Gedanken und Notizen in den Text, die ganz typisch für autobiografische Erzählungen sind – und dabei erzählt Ingo Schulze die unglaublichsten Geschichten. Wie jene über einen russischen Tanzbären, der in Estland im Wald ausgesetzt wird, um ein paar finnischen Jägern einen Bären frei zum Abschuss zu liefern und ihnen damit etwas Geld aus der Tasche zu ziehen. Klar, man muss schon mindestens nach Estland fahren, um so eine Geschichte glaubwürdig klingen zu lassen. Wer – im Ernst – war schon jemals in Estland? Ich kenne nur Künstler und wohlhabende Pensionäre, die dorthin reisen. Nicht mal Judith Hermann war, soviel ich weiß, schon mal in Estland. Jedenfalls nicht in einer ihrer Geschichten. Aber Ingo Schulze war dort – zusammen mit Tanja, die er wohl sehr liebt.
Es ist wirklich merkwürdig. Obwohl ich mein Geld mit Beobachtungen und der Beschreibung von Situationen und Gefühlen verdiene, empfinde ich mich im Vergleich zu Tanja als geradezu taub und stumpfsinnig.
Irgendwann schreibt Schulze dann den Satz: Ich traute meinen Augen nicht. Und natürlich schreibt er auch, dass er niemals im Leben (als Schriftsteller) diesen Satz gebrauchen würde; denn ein Schriftsller weiß sich mit Worten besser zu helfen als ein ganz gewöhnlich Sterblicher, der ständig sagt: Ich traue meinen Augen nicht, wenn er etwas nicht beschreiben kann; aber dieses eine Mal hatte Ingo Schulze keine andere Wahl. Er traute also seinen Augen nicht, denn was er sah, war ein Braunbär, der mitten im estländischen Wald auf einem Damenfahrrad fuhr.

Es ist eine schön raffinierte, persönliche Geschichte von Ingo Schulze - aus dem angenehm satt in der Hand liegenden und liebevoll altmodisch gestalteten Erzählungsband „Handy – dreizehn Geschichten in alter Manier“.

Natürlich wünsche ich mir auch, ich würde im Wald einen Bären treffen (er müsste gar nicht auf einem Damenfahrrad fahren), aber ich treffe nur ein Reh oder einen Hasen und manchmal einen Fuchs oder ein Wildschwein. Derzeit stolpere ich im Wald beim Laufen über stolze, unendlich lange Buchenstämme, die wie erlegte Wale auf dem Waldboden treiben, abgesägt von Waldarbeitern. Wo sich gestern noch kathedralisch Buchengeäst über die Köpfe spannte, ist der Wald nun luftig und formlos.

Aber, fällt mir ein, ich sehe auch – hier in unserem Wald – jedes Mal beim Laufen, wie ein Wolf (oder ist es ein wilder Hund?) einem Hirsch an den Hals springt. Immerzu wiederholt sich diese Jagdszene vor meinen Augen, und ich begreife nicht, was sie bedeutet. Es ist nur eine Szene – es fehlt mir (noch) die Geschichte dazu – aber ich schwöre, diesen Hirsch und diesen Wolfshund gibt es wirklich – und sie sind wirklich wilde Wesen.

Mittwoch, 5. Dezember 2007

Alter, stinkender Mann

Am Montagabend bei Aldi.
Der alte, schlecht rasierte Mann mit dem ausgebeulten, blauen Arbeitsanzug, der an der Kasse vor mir steht, riecht nach einer Wohnung, in der es keine Dusche gibt; nach Abstieg und Verwahrlosung; aber er trägt ein spöttisches, ein lautes und trotziges Grinsen im Gesicht. In seinem Einkaufswagen liegen ein Stück Butter, zwei Flaschen Traubensaft, abgepacktes Brot und eine Packung Wurst. Er ist gut gelaunt und erzählt ungefragt: „Ach, die so genannte Wiedervereinigung, was für eine Scheiße, was für ein Betrug. Nichts als Ärger hat se eingebracht. Und hier …“, er wendet sich an die junge, pausbäckige Kassiererin, „gestern haben drei Schwammtücher einen Euro gekostet. Heute sind in derselben Packung nur noch zwei Schwammtücher drin. Da wird abkassiert im großen Maßstab. Was iss, sag ich nich die Wahrheit?“ Er grinst die Kassiererin breit an. Sie blickt Hilfe suchend zu mir, dem nächsten in der Schlange. „Ach, ich war heut schon betrunken. Das war schön. Dann vergess ich wie mies die Welt jewordn ist. So, wie viel krieg ich raus? Iss das alles?! Na dafür kann ick mir ja keen Schnaps mehr koofen.“ Die Kassiererin blickt immer noch in meine Richtung. Ich drehe mich um: Hinter mir steht ein sehr junger Mann, der verständnisvoll zurück lächelt. Sie nickt erleichtert, fast bewegungslos. Ich stehe jetzt direkt neben dem alten Mann an der Kasse, weil er noch seine Sachen in einen kleinen Karton räumt. Ich mag den irgendwie, diesen alten Mann. Ich mag immer die fertigen, alten Männer. Sie wirken, als hätten sie etwas Schweres hinter sich gelassen, irgendwoher bekommen sie die paar Groschen, die sie zum Leben brauchen und hauen verbal auf die Kacke. Die Wahrheiten, die sie verbreiten, sind politisch alles andere als korrekt. Und ich frage mich, ob dieser alte, stinkende Mann nicht etwas ganz klar sieht, was ich einfach nicht wahrhaben will.

Samstag, 1. Dezember 2007

Terra Incognita

Von Zeit zu Zeit überfällt mich mächtig das Verlangen, einen Text zu veröffentlichen, ein paar Zeilen nur, die von der Sehnsucht Worte in sich tragen, die in mir unentdeckt und ungestillt sind.
Wie die Nacht über das feuchte Land herfällt und das Zwielicht vertreibt, in diesem Augenblick. Und wie die Nacht sich ums Haus herum treibt und dann und wann an die Tür klopft, mit dürren, langen, knöchernen Fingern.


Dieser dunkle, weite Raum in mir ist immer noch ein unbekanntes Land.

Es verlangt nach körperlicher, schweißtreibender, stinkender, mühseliger Arbeit, dieses Land zu erforschen. Bäche, Flüsse und Seen zu durchschwimmen, um Quellen aufzuspüren, Höhlen freischlagen, um näher an die Goldadern heranzukommen, Geröll wegschaffen, durchs Unterholz robben, um den freien Himmel zu erblicken, Leichen aus dem Keller ans Tageslicht schleifen.
Und wofür das alles?
Um Zeugen aufzurufen, um etwas, ein Stückchen, ein klitzekleines bisschen Gemeinsamkeit zu stiften. Um wenigstens einem einzigen Menschen etwas Trost zuzusprechen.
Für einen kostbaren Moment.

Mittwoch, 31. Oktober 2007

Haare schneiden

Gestern bin ich wirklich erschrocken, als die Zeitung eine Liste mit den niedrigsten Tarif-Löhnen in Brandenburg veröffentlichte.
Im Einzelhandel beträgt der Stundenlohn 7,32 Euro. Und das ist noch gut.
Angestellte Landwirtschaftskräfte bekommen 5,77 Euro die Stunde, Floristiker schaffen nicht einmal die 5-Euro-Hürde. Und Schlusslicht der Liste sind die Haareschneider: 2,75 Euro. Jetzt versteh ich auch, warum mein Friseurmeister kürzlich sagte: "Wenn der Mindestlohn kommt, kann ich meinen Laden zumachen."

Freitag, 26. Oktober 2007

Dunkle Tage kommen

Wenn die Bäume lichter werden und das Schuhwerk kräftiger, wenn der Atem in der Luft stehen zu bleiben beginnt und du jeden Tag Holz hereinträgst, dann ist es Zeit, eine Kerze anzuzünden, den Tisch zu decken und gute Freunde einzuladen.

Dienstag, 18. September 2007

Leichter Rauch überm Dach

Gestern wölbte sich dieser griechisch blaue Himmel über meine Spätsommergefühle, das Mittagessen nahmen wir unter dem Ahorn ein. Hoch über meiner Wehmut trug der frühere Dachdecker und heutige Allround-Handwerker Roland den alten, brüchigen Schornsteinkopf ab. Roland erzählte, dass es den Leuten früher gleichgültig war, wie ihr Haus aussah: Hauptsache, ein Dach überm Kopf, und dann im Kerzenlicht Karten gespielt. So ließ sich leben. Kein Gramm Gedanke zu viel.

Heute graue Regenstriche am Horizont. Roland bleibt zuhause. Die geborstenen Schornsteinreste liegen im Garten und es riecht rußig, nach längst verbranntem Holz. Nach einem Tag als gedankenloser Bauhelfer freue ich mich auf die Stille meines Arbeitszimmers. Ich spüre meine Körpermuskeln drücken und versuche den Faden des Sommers aufzunehmen.

„Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wusste. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.“ (Aus den Aufzeichnungen von Malte Laurids Brigge von Rainer Maria Rilke)

Ich sehe den Ahornbaum. Er wiegt sich vor meinen Augen im Wind. An manchen Stellen färbt er sich bereits tiefrot. Bald fallen seine unbeschriebenen Blätter zu Boden und legen sich Seite an Seite zu den vorher gegangenen Sommern.

Donnerstag, 13. September 2007

Nicht müde werden

Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten.

Hilde Domin

Dienstag, 24. Juli 2007

Ein gutes Gefühl

Das Belziger Postamt war eine Oase in der deutschen Dienstleistungswüste. Es lag günstig an der Straße zum Marktplatz, beinahe zu jeder Tageszeit konnte man direkt vor der Eingangstür parken, ohne mit einem Strafzettel rechnen zu müssen. Außer vor Weihnachten traf man in dem schlichten und hellen Warteraum nie eine Warteschlange an, die länger als zwei Personen war. Das lag vor allem an den beiden Frauen, die dort Dienst versahen und sich dabei tatsächlich ihren Kunden widmeten. Es waren zwei kräftige, freundliche und patente Frauen, die Freude an ihrer Arbeit hatten. Wenn die eine an einem Schalter bereits jemand bediente, tauchte die andere aus den Tiefen des Postbüros auf und schob am zweiten Schalter lächelnd die verlangten Briefmarken über den Tresen. Das Lächeln dieser Frauen war stets von milder Ironie umspielt, es entstammte einer Art souveränen Hingabe an die Arbeit, es war ein gefestigtes und dennoch leichtes Lächeln. Bis in die letzten Tage des Jahres 2005 (oder war es 2004?) trugen diese Frauen ihr Lächeln mit Stolz und Fassung, dann verschwanden sie mitsamt dem Postamt.

Die Postgeschäfte durften nun in einem Eisenwarenladen erledigt werden, der zugleich ein Geschenkartikel-, Anglerbedarf-, Haushaltswaren- und Schlüsseldienstladen ist. Ein echter Gemischtwarenladen also, der in mir manchmal Fantasien von den Pioniertagen des Wilden Westens weckt. Ich gewöhnte mich daran, ich dachte nur noch selten an das alte Postamt, das seit seiner Schließung leer steht.

Vor ein paar Wochen zog ein Küchen- und Heizungsgeschäft in das alte Postamt.

Gestern wollte ich dort ein Ersatzteil für unseren Gasherd bestellen. Schon als ich vor dem Gebäude anhielt, überkam mich das alte Postgefühl und beinahe hätte ich beim Aussteigen die Briefe geschnappt, für die ich noch Briefmarken holen wollte. Als ich die Eingangstür öffnete, nahm ich mir fest vor, kein Wort über das alte Postamt zu verlieren. Aus der Zeitung wusste ich, dass sich bereits manch Belziger hoffnungsvoll in das wieder eröffnete Gebäude verlaufen hatte, in dem Glauben, die Post sei auferstanden. Ich wollte die alten Geschichten ruhen lassen. Ich wollte nur ein Ersatzteil für den Gasherd.

Als ich eintrat, verlangsamte sich mein Schritt und ich schaute mich um. Ich suchte nach Anzeichen des alten Postamtes, aber die Inneneinrichtung war komplett neu. Wo früher die Ständer mit den Briefumschlägen standen, befand sich eine Ausstellungsküche. Anstelle der gläsernen Schalterfront gab es jetzt einen geschwungenen, offenen Tresen. Dahinter saß eine mir unbekannte, kräftige und freundliche Frau. Ich legte mein kaputtes Gasherdteil auf den Tresen und sagte erstmal nichts.
Stattdessen dachte ich: Die Post lebt in uns weiter. Sie wohnt an einem Ort, an dem Aldi und Media Markt nie ankommen werden, seit vielen vielen Jahren schon lebt sie dort, zusammen mit dem Bäcker, dem Fleischer, dem Schuster und dem Schneider.
Als ich bemerkte, dass die Frau mich erwartungsvoll ansah, sagte ich: „Nein, nein, ich will keine Briefmarken kaufen.“
Sie lächelte mich an und sagte: „Das wäre auch kein Problem.“
„Nein, wirklich, Sie verkaufen Briefmarken?“
„Ich habe immer welche da – für alle Fälle. Brauchen Sie welche?“
„Ja“, sagte ich strahlend. „Bitte fünf.“
„Sie sind schon der zweite heute, der bei mir Briefmarken kauft.“
Im selben Augenblick betrat ein Mann den Laden und reichte der Frau einen Briefumschlag über den Tresen. Ich sagte nichts. Kaum hatte er den Laden verlassen, eilte ein zweiter Mann herein, dem die Frau ein großes durchsichtiges Kuvert mit mehreren Umschlägen übergab.
Es war wie auf der richtigen Post.
Die Frau und ich, und sogar der Mann, der im Hintergrund still und streng vor einem Bildschirm saß, lächelten alle, und wir fühlten, wie der alte Postort tief in uns atmete.

Montag, 18. Juni 2007

Echo aus der Provinz

Heute zog ich mir ein weißes Hemd an und nahm mir vor, in aller Schärfe alles aufzuschreiben.

Wegen so eines Abends sind wir vor sechs Jahren hierher gezogen. Eine milde, sich manchmal aufbauschende Luft weht durch die mannshohen Gräser. Kühe weiden vor einem Horizont, der in orangenen und violetten Streifen ausläuft. Die Maispflanzen stecken ihre Köpfe zusammen und flüstern sich seltsame Haikus zu. Nur die Stromseile, die über unseren Köpfen ihr Fernwehlied summen, erinnern in diesem Augenblick daran, dass wir mit der Welt verbunden sind.

Nicht nur in Gedanken.

Nach sechs Jahren, denke ich, ist es an der Zeit, alles aufzuschreiben, was sich hier abspielt, in diesem Dasein am Ende des Weges. Was für eine Spannung das ist zwischen dem friedlichen Dasein auf dem Land und dem Verlorensein im Zentrum der Häuser.

An manchen Tagen habe ich das Gefühl, ich würde hier verblöden, als könnte ich keinen einzigen scharfen Gedanken mehr denken. Ich habe dann Angst, mein eigenes Leben nicht mehr zu begreifen. Es gibt eine süße Trägheit des Provinziellen, die schleichend alles umfasst, von der Kleidung über die Art, sich fort zu bewegen, bis zur Substanz des Bewusstseins.

Wir leben längst nicht mehr im abgeschiedenen Raum, sondern in der Gleichzeitigkeit von abgeschiedenem Raum und medialer Vernetzung. Wir können jederzeit alleine durch den Wald spazieren, in dem sich Rehe, Wildschweine und neuerdings wieder Wölfe tummeln, oder über feuchte Wiesen, steinige Abhänge, durch düstere Schluchten wandern, aber am Ende des Weges stoßen wir immer auf ein funkelndes Einkaufszentrum, das mit Sonderangeboten dekoriert und von Popmusik durchspült ist.

Hier irgendwo zwischen den Zeilen, bestückt mit Büchern und Zeitungen, von Kühen und zitternden Blättern umgeben, fange ich einfach an.

*

Vor ein paar Tagen im gut gefüllten, trotz geöffneter Fenster stickigen Bürgersaal in Belzig. Am einen Ende des langen Tisches steht Bhady, Königssohn aus Kamerun und deutscher Sozialarbeiter. Er hat soeben das Echo-Projekt vorgestellt, eine Basisinitiative für einen neuen Weg der Begegnung zwischen Europäern und Afrikanern. Um sich nicht auf den Kontinenten zu verlieren, hat die Initiativgruppe zwei konkrete Orte als Kommunikationspole gewählt. Der eine ist Belzig, das Ackerbürgerstädtchen, das sich als Kur- und Kreisstadt zu profilieren versucht (12.000 Einwohner), der andere Kribi, eine hoffnungsvolle Stadt im Westen von Kamerun an der Atlantikküste gelegen (60.000 Einwohner). Das Echo-Projekt will vor allem Begegnungen initiieren, die zwischen den Kulturen auf Augenhöhe stattfinden - und keine bürokratisch abgezirkelten Programme.

Am anderen Ende des Tisches steht eine blonde Frau, die sich nun schon zum zweiten Mal zu Wort gemeldet hat. „Wie geht es konkret weiter? Was kann ich tun?“

Bhady wiederholt. „Wir fangen ganz langsam an, Schritt für Schritt, erst kommunizieren wir, um Mentalitäten und Bedingungen zu erkunden, dann entwickeln wir konkrete Handlungskonzepte.“ Er lächelt. „Ich weiß, das klingt abstrakt, aber anders geht es nicht.“

Die blonde Frau lächelt auch. Sie hat zuvor schon einen Dokumentarclip über Kribi gesehen, der die afrikanische Stadt am Meer locker und beschwingt zeigt, eher wie einen Urlaubsort als ein Notstandsgebiet. Tatsächlich verspricht sich der Bürgermeister von Kribi, das derzeit über ein einziges Müllauto verfügt, vom Tourismus die ersehnte wirtschaftliche Dynamik. Die blonde Frau will gern etwas aufbauen. Sie wirkt wie eine zupackende, praktische und positive Frau und am liebsten würde sie wohl sofort nach Kribi fliegen, um dort einen Brunnen zu bohren. Es wäre schade, ihre Energie in einer Wüste abstrakter Ideen versickern zu lassen. Kees Berkouwer, der weißhaarige Ausländerbeauftragte und Mitinitiator des Projektes, ruft dazwischen. „Wir haben eine Adressliste, da können Sie sich eintragen. Und wir haben auch eine Homepage mit Email-Kontakt.“

Die blonde Frau lächelt immer noch, als sie so leise flüstert, dass es niemand am anderen Ende des Tisches hören kann. „Da hab ich mich doch längst eingetragen.“

Es ist nicht so einfach, das Echo-Projekt zu vermitteln. Ein Ausgangspunkt war, dass die Menschen in Afrika kaum etwas über die tatsächlichen Verhältnisse in Deutschland wissen, bevor sie sich auf die strapaziöse Odyssee ins gelobte Schlaraffenland aufmachen. „Wenn sie genauer wüssten, was sie erwartet, dann würde viele nicht hierher kommen“, glaubt Bhady, der ehemalige Asylbewerber. „Ich kenne viele Asylbewerber aus allen Ländern der Welt, die hier unglücklicher sind als in ihrer Heimat.“ Die vitalen Gefühle aus ihrer Heimat, die ihr Leben bis zur Migration prägten, und sie die Reise ins Unbekannte auf sich nehmen ließen, verblassen in Deutschland; sie verwandeln sich in ein dunkles Meer aus Sehnsucht und Erinnerung. Und an der Oberfläche versuchen sich die Auswanderer anzupassen, an die „sicheren Leute hier, mit seelischer Armut“.

Ein Mann steht auf und erhebt sein Wort. Seit Jahren reist er nach Kenia. Anfangs wegen der unglaublichen Landschaft, wegen den Tieren und der Nationalparks. Aber dabei lernte er auch die Afrikaner kennen. „Sie sind stolz und herzlich, einfach bezaubernd. Man muss sie lieb haben und man muss ihnen helfen. Es geht gar nicht anders.“ Und er weiß auch, worauf es ankommt: Auf jeden Bleistift. Von den 50 Millionen Euro, die Bundeskanzler Schröder vor ein paar Jahren in Kenia gelassen hat, ist im Land nichts zu spüren, aber wenn er ein Bündel frisch gespitzter Bleistifte in einer Dorfschule abliefert, dann jubeln dort die Lehrer und Kinder.

Eine afrikanische Redensart lautet: Europa hat die Uhr. Wir haben die Zeit.

Am nächsten Tag klicke ich auf das Echo-Projekt und schreibe eine Kontakt-Email, in der ich meine Sympathie für das langsame Projekt bekunde. Nach einer halben Stunde landet die Email wieder bei mir – die Kontakt-Mail-Adresse funktioniert nicht.

Mittlerweile (vier Tage später) funktioniert sie bestimmt.