Montag, 18. Juni 2007

Echo aus der Provinz

Heute zog ich mir ein weißes Hemd an und nahm mir vor, in aller Schärfe alles aufzuschreiben.

Wegen so eines Abends sind wir vor sechs Jahren hierher gezogen. Eine milde, sich manchmal aufbauschende Luft weht durch die mannshohen Gräser. Kühe weiden vor einem Horizont, der in orangenen und violetten Streifen ausläuft. Die Maispflanzen stecken ihre Köpfe zusammen und flüstern sich seltsame Haikus zu. Nur die Stromseile, die über unseren Köpfen ihr Fernwehlied summen, erinnern in diesem Augenblick daran, dass wir mit der Welt verbunden sind.

Nicht nur in Gedanken.

Nach sechs Jahren, denke ich, ist es an der Zeit, alles aufzuschreiben, was sich hier abspielt, in diesem Dasein am Ende des Weges. Was für eine Spannung das ist zwischen dem friedlichen Dasein auf dem Land und dem Verlorensein im Zentrum der Häuser.

An manchen Tagen habe ich das Gefühl, ich würde hier verblöden, als könnte ich keinen einzigen scharfen Gedanken mehr denken. Ich habe dann Angst, mein eigenes Leben nicht mehr zu begreifen. Es gibt eine süße Trägheit des Provinziellen, die schleichend alles umfasst, von der Kleidung über die Art, sich fort zu bewegen, bis zur Substanz des Bewusstseins.

Wir leben längst nicht mehr im abgeschiedenen Raum, sondern in der Gleichzeitigkeit von abgeschiedenem Raum und medialer Vernetzung. Wir können jederzeit alleine durch den Wald spazieren, in dem sich Rehe, Wildschweine und neuerdings wieder Wölfe tummeln, oder über feuchte Wiesen, steinige Abhänge, durch düstere Schluchten wandern, aber am Ende des Weges stoßen wir immer auf ein funkelndes Einkaufszentrum, das mit Sonderangeboten dekoriert und von Popmusik durchspült ist.

Hier irgendwo zwischen den Zeilen, bestückt mit Büchern und Zeitungen, von Kühen und zitternden Blättern umgeben, fange ich einfach an.

*

Vor ein paar Tagen im gut gefüllten, trotz geöffneter Fenster stickigen Bürgersaal in Belzig. Am einen Ende des langen Tisches steht Bhady, Königssohn aus Kamerun und deutscher Sozialarbeiter. Er hat soeben das Echo-Projekt vorgestellt, eine Basisinitiative für einen neuen Weg der Begegnung zwischen Europäern und Afrikanern. Um sich nicht auf den Kontinenten zu verlieren, hat die Initiativgruppe zwei konkrete Orte als Kommunikationspole gewählt. Der eine ist Belzig, das Ackerbürgerstädtchen, das sich als Kur- und Kreisstadt zu profilieren versucht (12.000 Einwohner), der andere Kribi, eine hoffnungsvolle Stadt im Westen von Kamerun an der Atlantikküste gelegen (60.000 Einwohner). Das Echo-Projekt will vor allem Begegnungen initiieren, die zwischen den Kulturen auf Augenhöhe stattfinden - und keine bürokratisch abgezirkelten Programme.

Am anderen Ende des Tisches steht eine blonde Frau, die sich nun schon zum zweiten Mal zu Wort gemeldet hat. „Wie geht es konkret weiter? Was kann ich tun?“

Bhady wiederholt. „Wir fangen ganz langsam an, Schritt für Schritt, erst kommunizieren wir, um Mentalitäten und Bedingungen zu erkunden, dann entwickeln wir konkrete Handlungskonzepte.“ Er lächelt. „Ich weiß, das klingt abstrakt, aber anders geht es nicht.“

Die blonde Frau lächelt auch. Sie hat zuvor schon einen Dokumentarclip über Kribi gesehen, der die afrikanische Stadt am Meer locker und beschwingt zeigt, eher wie einen Urlaubsort als ein Notstandsgebiet. Tatsächlich verspricht sich der Bürgermeister von Kribi, das derzeit über ein einziges Müllauto verfügt, vom Tourismus die ersehnte wirtschaftliche Dynamik. Die blonde Frau will gern etwas aufbauen. Sie wirkt wie eine zupackende, praktische und positive Frau und am liebsten würde sie wohl sofort nach Kribi fliegen, um dort einen Brunnen zu bohren. Es wäre schade, ihre Energie in einer Wüste abstrakter Ideen versickern zu lassen. Kees Berkouwer, der weißhaarige Ausländerbeauftragte und Mitinitiator des Projektes, ruft dazwischen. „Wir haben eine Adressliste, da können Sie sich eintragen. Und wir haben auch eine Homepage mit Email-Kontakt.“

Die blonde Frau lächelt immer noch, als sie so leise flüstert, dass es niemand am anderen Ende des Tisches hören kann. „Da hab ich mich doch längst eingetragen.“

Es ist nicht so einfach, das Echo-Projekt zu vermitteln. Ein Ausgangspunkt war, dass die Menschen in Afrika kaum etwas über die tatsächlichen Verhältnisse in Deutschland wissen, bevor sie sich auf die strapaziöse Odyssee ins gelobte Schlaraffenland aufmachen. „Wenn sie genauer wüssten, was sie erwartet, dann würde viele nicht hierher kommen“, glaubt Bhady, der ehemalige Asylbewerber. „Ich kenne viele Asylbewerber aus allen Ländern der Welt, die hier unglücklicher sind als in ihrer Heimat.“ Die vitalen Gefühle aus ihrer Heimat, die ihr Leben bis zur Migration prägten, und sie die Reise ins Unbekannte auf sich nehmen ließen, verblassen in Deutschland; sie verwandeln sich in ein dunkles Meer aus Sehnsucht und Erinnerung. Und an der Oberfläche versuchen sich die Auswanderer anzupassen, an die „sicheren Leute hier, mit seelischer Armut“.

Ein Mann steht auf und erhebt sein Wort. Seit Jahren reist er nach Kenia. Anfangs wegen der unglaublichen Landschaft, wegen den Tieren und der Nationalparks. Aber dabei lernte er auch die Afrikaner kennen. „Sie sind stolz und herzlich, einfach bezaubernd. Man muss sie lieb haben und man muss ihnen helfen. Es geht gar nicht anders.“ Und er weiß auch, worauf es ankommt: Auf jeden Bleistift. Von den 50 Millionen Euro, die Bundeskanzler Schröder vor ein paar Jahren in Kenia gelassen hat, ist im Land nichts zu spüren, aber wenn er ein Bündel frisch gespitzter Bleistifte in einer Dorfschule abliefert, dann jubeln dort die Lehrer und Kinder.

Eine afrikanische Redensart lautet: Europa hat die Uhr. Wir haben die Zeit.

Am nächsten Tag klicke ich auf das Echo-Projekt und schreibe eine Kontakt-Email, in der ich meine Sympathie für das langsame Projekt bekunde. Nach einer halben Stunde landet die Email wieder bei mir – die Kontakt-Mail-Adresse funktioniert nicht.

Mittlerweile (vier Tage später) funktioniert sie bestimmt.