Dienstag, 31. März 2009

Das Alptraum-Szenario

Vorher: Das schlafende Tier



Nachher: Der harpunierte Rücken



Fotos und Montage von Christian Glück aus Hagelberg.

Montag, 30. März 2009

Ochsenkacke

Rund um den Hagelberg ist der Frühling ausgebrochen. Ich sehe es in den Vorgärten, wo Tulpen und Narzissen sich täglich vermehren. An den Sträuchern blühen in allen Farben die Ostereier, und auf der Kuhweide turteln Vogelscharen miteinander, deren Namen ich nicht kenne. Duft von ausgemistetem Stall weht über die Felder. Und ich spüre den Frühling in meiner Nase, die um diese Jahreszeit heftige allergische Reaktionen zeigt.
Ochsenkacke, denke ich, ausgerechnet im Frühling Heuschnupfen zu haben.

Ochsenkacke, denke ich in letzter Zeit öfter, wenn ich mich auf der Bundesstraße dem Hagelberg nähere. Wenn ich zum Beispiel von Wiesenburg her komme und die sich sanft erhebende Silhouette erblicke, mit der zarten Kuppe, dem Hagelberg. Die Pappel, die das Gipfelkreuz überragt, biegt sich je nach Wetterlage im Wind. Es bläst oft ein strenger Wind auf dem Hagelberg. Vor hundert Jahren drehten sich dort Windmühlenflügel, die, nachdem die Mühle aufgegeben worden war, vom Westwind genüsslich und akribisch in ihre Einzelteile zerlegt wurden. Übrig blieb nur ein Mühlstein, der heute am Wegrand die Dorfmitte ziert.
Was für eine Ochsenkacke, schnaube ich vor mich hin, wenn ich den Hagelberg hinauf fahre, und daran denke, dass der Landkreis da oben auf dem Hügel einen Aussichtsturm bauen will. Ich versuche mir vorzustellen, was in Menschen vor sich geht, die auf den in Brandenburg einzigartigen Landschaftsrücken einen Aussichtsturm bauen wollen. Ich schlucke jedes Mal, wenn ich mir die Dimensionen vergegenwärtige: Ein stählernes Monstrum, einem Hochspannungsmasten ähnlich, mit einer Aussichtsplattform in 25 Metern Höhe. Noch zwölf Meter darüber soll ein Bündel Funkantennen aufsteigen.

Zum Glück gibt es leidenschaftlichen Widerstand gegen den Turm. Gegen die Funkantennen, deren Strahlen unbewiesene Wirkungen haben. Gegen die Berliner Busladungen, von denen niemand weiß, ob sie kommen werden oder nicht. Wenn sie ausbleiben, sind 300.000 Euro in ein hässliches Monument gescheiterter Förderpolitik verwandelt, und wenn sie wirklich anrücken, ist die dörfliche Ruhe dahin. Und wo im Dorf soll so ein Bus überhaupt halten? Wer räumt dann Bananenschalen und Bonbonpapiere weg?
Mich gruselt vor allem vor dem Anblick. Ein Stahlgerüst auf dem Hagelberg. Als Touristenattraktion. Bis in die entlegendsten Inselgegenden der Welt hat es sich herumgesprochen, dass sich ein für alle Beteiligten gesunder Fremdenverkehr vor allem dort entwickelt, wo die ursprüngliche Landschaft erhalten bleibt.
Ochsenkacke.

Vor einer Woche traf ich auf dem Hagelberg einen Herrn vom Landkreis, der mit dem Genehmigungsverfahren betraut ist. Der Wind bläst heftig an diesem Tag, so dass wir uns in unsere Wetterjacken verkriechen. Die Vorstellung, bei dieser Wetterlage 25 Meter höher zu stehen, löst zusätzliche Kälteschauer in mir aus. Der Herr ist nicht mehr ganz jung, nett und eifrig, überzeugt davon, dass alles seine Richtigkeit hat, was hier geschieht. Der Turm soll Touristen herlocken. Er wundert sich über die erregten Debatten, die kürzlich im Belziger Rathaus stattfanden, als die Gemeindeversammlung ihre Zustimmung zum Turm-Bau verweigerte. Der Landkreis kann dennoch den Bau bestimmen, er kann die Zustimmung erzwingen, weil ein Bauvorbescheid vorliegt. Am liebsten wäre dem Herrn eine sachliche Auseinandersetzung, in einer ruhigen Stunde.
Die Bauern streuen Ochsenkacke aufs Feld, weil sie wissen, dass das für den Boden gut ist, weil die Ernte dann besser ausfällt.
Der Landkreis will einen Turm bauen, weil ein Landschaftsplaner ein Bild in die Köpfe gezeichnet hat. Der Herr erzählt mir von diesem Bild. Es geht so: Wenn da unten auf der Landstraße zwischen Belzig und Wiesenburg der Reiseleiter zu seiner Berliner Busladung sagt: „Na wollt ihr ma von obn auf Balin kieken?“ dann rufen alle begeistert „ja“ und der Bus biegt mit Düsenantrieb ab zum Aussichtsturm. Der Herr lächelt mich jetzt an.
Er lächelt auch, als ich ihn frage, woher er weiß, dass man von da oben, in 25 Metern Höhe, tatsächlich bis nach Berlin sehen kann. Sein Vorgänger, erzählt er mir, ist einst mit dem Feuerwehrauto auf den Hagelberg gefahren und hat so lange die große Leiter ausfahren lassen, bis er über die bewaldeten Höhen des Flämings hinwegsehen konnte. „Und, haben sie wirklich Berlin gesehen?“, frage ich nach. Der Herr lächelt jetzt wie ein Kind. Wie mein Sohn, wenn er sich über etwas freut. „Ja, er sagte mir, ja. Bis nach Berlin.“
Wieso freut er sich so darüber? Was soll daran so toll sein, wenn man von Hagelberg bis nach Berlin schauen kann?
Der Berliner fährt doch aufs Land nicht wegen der Aussicht, sondern wegen der Ochsenkacke. Wegen der unberührten Landschaft im Naturpark Hoher Fläming, wegen der Abgeschiedenheit, weil er seine Stadt mal ein paar Stunden vergessen will, und erleben, dass es noch etwas anderes gibt als seine Stadt, dass es noch echt nach Ochsenkacke stinkt, wenn man aufs Land fährt, fast wie früher.
Die Aussicht auf seine Stadt ist vom Fernsehturm am Alex viel besser, und sogar vom Dach des Reichstags aus, wo es nicht einmal Eintritt kostet, sieht man über ganz Berlin. Vom Hochbunker auf dem Wedding, vom obersten Stock des Bahngebäudes, vom Funkturm an der Messe, von jedem Kirmes-Riesenrad sieht man über Berlin hinweg.

Aber den Hagelberg, diesen sanften, unversehrten Rücken, das große schlafende Tier im Herzen des Hohen Fläming, gibt es nur einmal zu sehen.