Dienstag, 24. August 2010

In Memoriam

Christoph Schlingensief ist am letzten Samstag an Lungenkrebs gestorben. Wie immer, wenn jemand stirbt, den ich mal verehrt habe, fühle ich mich gleich um ein paar Jahre jünger, weil ich mich an die Zeit erinnere, als die Verehrung noch ein wildes Glühen war.
Rio Reiser war so einer, Johnny Cash eher eine späte tiefe Liebe, und jetzt Christoph Schlingensief.
Es gibt nicht so viele Künstler, die mein Leben wirklich beeinflusst haben.
Deshalb als kleine Andacht zwei Auszüge aus Interviews, die ich 1997 mit ihm geführt habe. Das war kurz nach der atemberaubenden Inszenierung von „Ufokrise - Schlacht um Europa“ an der Berliner Volksbühne, und kurz vor „Chance 2000“, der Bewegung, die Helmut Kohl von der Macht erlöste.

Über das Theater

„Das ist auch eine meiner Lieblingsaufgaben. Da oben zu stehen und zu sagen: Regisseur sein, das kann jeder. Ich bin ein großer Fan von Beuys. Der eine hat sein Fett und der andere sein Filz und ich meinetwegen mein Kastrationsvideo. Es soll nicht alles gleich aussehen, das wäre ja furchtbar. Aber das muß man denen (den Theaterintendanten) einfach mal wieder klarmachen, daß sie einen rituellen Ort wie ein Theater mittlerweile zu einer Zooabteilung haben verkommen lassen von (zeigt auf ein Zeitungsfoto von Claus Peymann, das auf dem Tisch liegt) Halbgöttern, die aber letzen Endes doch nur Verwaltungsbeamte sind. Wenn ich in den zwei Stunden 15 Minuten oder bloß 10 Minuten hinbekomme, so daß du einfach sagst, das ist ja jetzt merkwürdig, ist das jetzt echt oder ist das jetzt Theater, was ist denn da jetzt los? Wenn ich das irgendwie hinbekomme, dann ist für das Theater wieder ein Anfang gemacht, für eine Idee davon, wie rituell Theater sein kann.“

Über den Zweifel

„Die Grundlage ist nunmal Angst und auch eine große Portion Selbstzweifel. Bei ganz vielen Sachen ist die Grundlage ein extremer Selbstzweifel. Die Frage, ob das tatsächlich in irgendeiner Weise sinnvoll ist, was ich jetzt betreibe. Das quält mich schon ziemlich lange.“

Hast Du denn eine Antwort auf diese Frage gefunden?

„Nein, ich glaube auch, daß ich keine bekomme. Weil dieser Zustand von auf-der-Welt-sein für mich immer voller Zweifel ist. Wenn ich Artikel lese von Leuten, die Bescheid wissen, wenn Leute sagen, ja das ist gut oder das ist schlecht, dann fasziniert mich das. Wenn Reich-Ranicki wie ein Wahnsinniger plötzlich behauptet: „Indiskutabel, indiskutabel!“ Da sitze ich davor und bewundere das und frage mich: Wie kann er das machen? Wo kommt das her?
Ich glaube, daß die meisten Menschen sehr verletzbar sind und wieviel Kraft aufgewendet wird, um die eigene Verletzbarkeit zu übertünchen oder zu verstecken, das finde ich faszinierend. Die Kraft, die man aufwendet, um sich selber zu schützen, vor der Erkenntnis, verletzt zu sein.“

Dienstag, 10. August 2010