Montag, 7. September 2009

Etwas Neues

"Worin unterscheidet sich der Weltumradler von heute von dem von vor fünfzehn Jahren?", wurde der Weltenbummler und Fotograf Olaf Meinhardt gefragt, der zum Beispiel mit dem Rad die Mongolei durchquerte. Er antwortete: "Den größten Unterschied dürfte das Internet ausmachen. Jeder Zipfel dieser Welt ist schon einmal von irgendwem bereist worden. Nur früher wusste man das nicht zwangsläufig. Je ungewöhnlicher heute die Reisen, desto größer der Mitteilungsdrang der Leute. Die Informationen erschlagen einen fast. Dadurch geht häufig der Überraschungseffekt verloren, das Gefühl, gerade etwas gänzlich Neues zu entdecken."

Donnerstag, 27. August 2009

Keine Komödie

Vor ein paar Wochen wurde bekannt, dass das Hotel auf der Burg Eisenhardt (manche nennen die Burg auch das „Wahrzeichen Belzigs“) einen neuen Pächter bekommt. Eigentlich eine gute Sache, da der alte Pächter seine Miete nicht mehr bezahlen konnte und es um den Ruf von Hotel und Restaurant zuletzt nicht gut stand: Spinnweben in den Zimmern, Hornissennester im Rittersaal, schlechte Weine, halbvolle Essenteller. Einige Stadtverordnete und manche Bürger fühlten sich jedoch überrumpelt und forderten eine öffentliche Ausschreibung des Hotels anstelle der eiligen Vergabe an eine unbekannte GmbH. Leidenschaftliche Leserbriefe wurden geschrieben, vor dem Rathaus fand eine Protestversammlung statt, ein Lokaljournalist schüttete boulevardmäßig gekonnt Öl ins Feuer und die Bürgermeisterin sagte: "Macht nix, der neue Pächter, der die Altschulden von 94.000 Euro übernehmen will, ist die beste und vor allem kostengünstigste Lösung, der Vertrag wird unterschrieben." Kurzum: Die Wogen schlugen hoch.

Da die Sache bereits gut eingefädelt war, wurde der neue Vertrag schließlich unterzeichnet – für 33 Jahre ist das Burg-Hotel nun verpachtet, samt den vorübergehend von einem Kunstverein und diversen Initiativen genutzten Räumen im Torhaus der Burg, wo schon bald ein Kongresszentrum eingerichtet werden soll.

Richtig zu verstehen ist die ganze Aufregung nur, wenn man die Person des Projektanbahners mit in Augenschein nimmt. Herr P. organisiert soeben zum zweiten Mal den Belziger Altstadtsommer und versteht sich als neuer Marketingstratege für Belzig. Für viele Belziger ist er eher ein Schreckgespenst. Ich kenne den Mann nicht persönlich, aber angesichts der vielen Skeptiker und Feinde, die er sich in kurzer Zeit gemacht hat, kann man nicht sagen, dass er über besonderes Einfühlungsvermögen verfügt. Er scheint eher ein Hansdampf (und auch ein Vielplauderer) zu sein, als einer, der sich ums Verständnis seines Gegenübers bemüht. Herr P. hat nur seine eigenen Interessen im Sinn und nicht das Wohl der Stadt und ihrer Bürger – so könnte man die Vorwürfe an ihn vielleicht zusammenfassen. Aber worin diese Interessen bestehen, das wusste niemand so recht. Denn wie wollte Herr P. bzw. der neue Geschäftsführer aus einem schlecht laufenden Betrieb eine Goldgrube machen? Woher sollten die 1,8 Millionen Euro für die angekündigten Investitionen kommen? Wer sind die Geldgeber, die hinter der GmbH stehen?

Heute konnte man in der Zeitung eine Antwort lesen: Es ist die Firma Jiuhuan Co. Ltd. aus Peking. Ihr (deutscher) Geschäftsführer will auf der Burg Eisenhardt in Belzig ein „China-Kompetenzzentrum“ einrichten. Unklar blieb in dem Bericht, was das bedeutet und wer zum Beispiel die Sprachkurse besuchen soll, die dort angeboten werden: Sollen die Belziger chinesisch lernen oder die Chinesen deutsch? Aber egal, ein „China-Kompetenzzentrum“, das ist großartiger als jede wilde Phantasie von betuchten Geschäftsleuten, die auf der Burg kulinarische Ritterbankette abhalten. Das ist wie in einer netten Provinzfernsehkomödie, wo man am Schluss, wenn die Chinesen kommen und die marode Schuhfabrik übernehmen, denkt: Naja, da wollte der Drehbuchautor mal zeigen, dass er weiß, was in der großen Welt so alles vor sich geht. Nur dass das hier zwar Provinz, aber kein Fernsehfilm ist. Wie es aussieht, kommen die Chinesen wirklich. Und es sollen richtig viele sein.

Bloß, warum hat Herr P. nicht schon früher erzählt, dass die Chinesen kommen?
Nicht Konfuzius, sondern Martin Buber sagte: „Der Ursprung allen Konflikts ist, dass ich nicht sage, was ich meine, und nicht tue, was ich sage.“
Das schöne Zitat habe ich auf einer Webseite gefunden, auf der der Geschäftsführer der Jiuhuan Co. Ltd. sagt, dass die Chinesen (trotz Weltwirtschaftskrise) optimistisch in die Zukunft blicken.

Optimistische Chinesen, die auf der Burg residieren, sind genau das, was Belzig braucht.

Donnerstag, 20. August 2009

Ausflug nach Baitz oder: Nicht von hier

Wer mit dem Zug von Berlin nach Belzig fährt, hält zwangsläufig in Baitz und wer sich nicht auskennt, wundert sich, dass der Zug einfach auf offener Strecke stehen bleibt. Nur wer zufällig in einem der vorderen Zugwagen sitzt, von denen aus man das graue Bahnhofsgebäude erblickt, kann den Halt einordnen. "Baitz" ist da zu lesen, auch wenn kein Dorf zu sehen ist.
Schnell heraus, bevor es zu spät ist!

Auch nachdem der Zug abgefahren ist, und die Sicht ringsum frei, ist das Rätsel kaum zu lösen. Da steht zwar der Bahnhof, der „zu verkaufen“ ist, wie ein Transparent lauthals verkündet. Und an der Straße, die Richtung Südwesten führt, lagert eine Handvoll Häuser. Aber diese versuchen gar nicht erst den Eindruck zu erwecken, als rechtfertigen sie einen Halt. Allein die Autos, die über die kleine Parkfläche hinausquellen, weisen darauf hin, dass dies kein Halt im Nirgendwo ist.

Baitz ist vom Bahnhof aus nicht zu entdecken.
Es liegt etwa einen halben Kilometer entfernt, durch einen Waldstreifen dem Blick verborgen, in einer sanften Mulde, von Feldern umschlossen. Wer mitten im Juli zu Fuß vom Baitzer Bahnhof ins Dorf läuft, erfährt etwas über den Reiz des langsamen Ankommens. Nach einer Biegung, mit der man den Waldstreifen hinter sich lässt, schält sich die Silhouette des Dorfes aus der dunstigen Spätvormittagshitze. Schnurgerade läuft der Weg auf das harmonisch anmutende Dorf mit dem jetzt weithin sichtbaren Kirchturm zu. Mit jedem Schritt wächst es deutlicher aus den Sonnenblumen- und Roggenfeldern. Nicht nur die Luft ist staubig wie in einem Western. Auch die Pferde, die auf der großen Koppel links des Dorfes grasen, verstärken die Stimmung irgendwo ganz anders, jedenfalls nicht in Brandenburg, zu sein. Tanzender Staub, glühende Stille und Erinnerungen an legendäre Italo-Western vermählen sich zu einer zeitlosen Atmosphäre. Flimmert da nicht der Horizont, so ähnlich wie über einem weiten trockenen Land am Rande des großen Wassers? Kreist da nicht ein Adler über der Prärie?
Aber es ist nur der Storch, der hier zuhause ist.

Am Ortseingang bellt ein verborgener Hund, in einem Garten strecken sich Ziegen und eine müde Gans im Schatten aus. Obwohl kein Mensch zu sehen ist, wirkt das Dorf dennoch belebt, etwa so, als hätten sich die Dorfbewohner gerade zum Mittagschlaf zurückgezogen. In der Dorfmitte ein typischer Platz mit Schatten spendenden Linden, eine Schaukel steht inmitten des grünen Dreiecks, das zerbrochene Fenster an dem beschmierten Buswartehäuschen erzählt, dass Recht und Sauberkeit hier nicht an erster Stelle stehen.

Geradezu lockt Dinos Biergarten, ein idyllisches Juwel unter den Dorfkneipen, direkt an einem Bach gelegen. Die Straße links hinein werden wir in der Naturwachtstation erwartet. Eine kräftige Frau, die „nicht von hier“, sondern aus dem etwa zehn Kilometer entfernten Kranepuhl stammt, empfängt uns freundlich und führt uns in die Miniausstellung mit liebevoll ausgestopften heimischen Tieren. Vor allem das Großtrappenmännchen und der Uhu beeindrucken durch ihre majestätische Größe. Während die Großtrappen eindeutig in den an Baitz anschließenden, geschützten Landschaftswiesen zu verorten (wenn auch nicht zu sehen) sind, ist der Aufenthaltsort der beiden Hoher-Fläming-Uhus ein Geheimnis. Einer, erfahre ich immerhin, lebt etwa in der Mitte des Naturparks. „In Wiesenburg also?“, frage ich nach.
„Da ist ja nicht die Mitte“, antwortet die Frau bestimmt.
„Wo liegt denn die Mitte? Bei Rädigke etwa?“
Die Frau schüttelt den Kopf und schweigt ansonsten.

Dann führt sie uns aus dem Dorf hinaus, über einen kleinen Bach, vorbei an zwei Ponys, in ein Waldstück, das nicht nur ortsüblich nach Kiefern, sondern intensiv nach Mittelmeer riecht.
Welch ein Ort, dieses Baitz! Direkt vom Wilden Westen geht es in den italienischen Süden. „Eine Wanderdüne“, erklärt die Frau sachlich, provisorisch festgezurrt von den Wurzeln bizarr gewundener, oft doppelstämmiger Kiefern, die für die Forstwirtschaft nichts hergeben. Der Sandboden ist flächig von Moosen und Flechten bedeckt, die Bäume stehen licht, da vorne hinter dem dünenartigen Hügel, da muss irgendwo ein verborgenes Meer sein. Schnaufend schieben wir uns die hohe Düne, auch „Fuchsberg“ genannt, hinauf. Enttäuschung macht sich breit. Kein Meer in Sicht. Nur ungewöhnlich stolze, solitäre Kiefern und samtene Stille. Aber dort, Richtung Nordwest, hinter dem lichtdurchfluteten Stück Wald, wo sich helle Gräserbüschel im Wind wiegen, dort könnte es sein: Das große Wasser.

Derweil lädt die Wanderdüne zur Hingabe ein: Sich flach zu legen und mit dem trockenen Boden zu verbinden; die Ameisenlöwen bei der Ameisenjagd zu beobachten, wobei sie eiergroße Trichterchen in den Boden saugen; oder den trockenen Wind auf der ganzen Haut zu spüren; auf die Dämmerung zu warten und zu schauen, ob wüstenähnlich bizarre Schattenbilder zu tanzen beginnen; oder einfach nur dazusitzen und vom Meer und seiner salzigen Weite zu träumen.

Durstig ziehen wir weiter, dem leuchtenden Horizont entgegen. Und tatsächlich: Hinter dem Wald erstreckt sich unübersehbar weit eine flache Landschaft, die bereits tiefer stehende Sonne glitzert zwischen locker hingestreuten Baumreihen. Kein Meer, aber dafür eine verwirrend vielschichtige, gemäldeartige Landschaft, skizzenhaft hingeworfen die Büsche und Feldgrenzen, nicht von ungefähr wirkt das Gelände wie von einem Architekten entworfen: Entwässerungsgraben durchziehen die Landschaftswiesen, das ehemalige Feuchtgebiet. Eine Art still gelegtes Meer. Hier leben nicht nur die seltenen Großtrappen, die sonst in Spanien und Russland heimisch sind, und einige Fischadler, sondern, auch, die fachkundige Frau verrät es uns, der König unter den europäischen Raubvögeln: Der Seeadler.

Hier fühle ich mich angekommen. In alle Himmelsrichtungen dehnen sich Seelenlandschaften aus. Die mediterrane Wanderdüne im Rücken, das Italo-Western-Dorf Baitz links von uns, rechts erstreckt sich ein dunkler Wald des Nordens und vor uns liegt die weite, von Wasseradern durchzogene Ebene, ein fruchtbares wildes Land.
Nicht von hier, aber ewig und tief in meine innere Landschaft eingraviert.
Nicht durch die aufgestellten Fernrohre, sondern am Himmel sehe ich den Seeadler kreisen, den gelben Schnabel fordernd vorgestreckt, das Halbrund der Schwanzfedern leuchtet hell.
Wilde Pferde jagen über die Stege.
Immer weiter, zwischen den funkelnden Gräben hindurch.

Donnerstag, 28. Mai 2009

Donnerstag, 9. April 2009

Dienstag, 31. März 2009

Das Alptraum-Szenario

Vorher: Das schlafende Tier



Nachher: Der harpunierte Rücken



Fotos und Montage von Christian Glück aus Hagelberg.

Montag, 30. März 2009

Ochsenkacke

Rund um den Hagelberg ist der Frühling ausgebrochen. Ich sehe es in den Vorgärten, wo Tulpen und Narzissen sich täglich vermehren. An den Sträuchern blühen in allen Farben die Ostereier, und auf der Kuhweide turteln Vogelscharen miteinander, deren Namen ich nicht kenne. Duft von ausgemistetem Stall weht über die Felder. Und ich spüre den Frühling in meiner Nase, die um diese Jahreszeit heftige allergische Reaktionen zeigt.
Ochsenkacke, denke ich, ausgerechnet im Frühling Heuschnupfen zu haben.

Ochsenkacke, denke ich in letzter Zeit öfter, wenn ich mich auf der Bundesstraße dem Hagelberg nähere. Wenn ich zum Beispiel von Wiesenburg her komme und die sich sanft erhebende Silhouette erblicke, mit der zarten Kuppe, dem Hagelberg. Die Pappel, die das Gipfelkreuz überragt, biegt sich je nach Wetterlage im Wind. Es bläst oft ein strenger Wind auf dem Hagelberg. Vor hundert Jahren drehten sich dort Windmühlenflügel, die, nachdem die Mühle aufgegeben worden war, vom Westwind genüsslich und akribisch in ihre Einzelteile zerlegt wurden. Übrig blieb nur ein Mühlstein, der heute am Wegrand die Dorfmitte ziert.
Was für eine Ochsenkacke, schnaube ich vor mich hin, wenn ich den Hagelberg hinauf fahre, und daran denke, dass der Landkreis da oben auf dem Hügel einen Aussichtsturm bauen will. Ich versuche mir vorzustellen, was in Menschen vor sich geht, die auf den in Brandenburg einzigartigen Landschaftsrücken einen Aussichtsturm bauen wollen. Ich schlucke jedes Mal, wenn ich mir die Dimensionen vergegenwärtige: Ein stählernes Monstrum, einem Hochspannungsmasten ähnlich, mit einer Aussichtsplattform in 25 Metern Höhe. Noch zwölf Meter darüber soll ein Bündel Funkantennen aufsteigen.

Zum Glück gibt es leidenschaftlichen Widerstand gegen den Turm. Gegen die Funkantennen, deren Strahlen unbewiesene Wirkungen haben. Gegen die Berliner Busladungen, von denen niemand weiß, ob sie kommen werden oder nicht. Wenn sie ausbleiben, sind 300.000 Euro in ein hässliches Monument gescheiterter Förderpolitik verwandelt, und wenn sie wirklich anrücken, ist die dörfliche Ruhe dahin. Und wo im Dorf soll so ein Bus überhaupt halten? Wer räumt dann Bananenschalen und Bonbonpapiere weg?
Mich gruselt vor allem vor dem Anblick. Ein Stahlgerüst auf dem Hagelberg. Als Touristenattraktion. Bis in die entlegendsten Inselgegenden der Welt hat es sich herumgesprochen, dass sich ein für alle Beteiligten gesunder Fremdenverkehr vor allem dort entwickelt, wo die ursprüngliche Landschaft erhalten bleibt.
Ochsenkacke.

Vor einer Woche traf ich auf dem Hagelberg einen Herrn vom Landkreis, der mit dem Genehmigungsverfahren betraut ist. Der Wind bläst heftig an diesem Tag, so dass wir uns in unsere Wetterjacken verkriechen. Die Vorstellung, bei dieser Wetterlage 25 Meter höher zu stehen, löst zusätzliche Kälteschauer in mir aus. Der Herr ist nicht mehr ganz jung, nett und eifrig, überzeugt davon, dass alles seine Richtigkeit hat, was hier geschieht. Der Turm soll Touristen herlocken. Er wundert sich über die erregten Debatten, die kürzlich im Belziger Rathaus stattfanden, als die Gemeindeversammlung ihre Zustimmung zum Turm-Bau verweigerte. Der Landkreis kann dennoch den Bau bestimmen, er kann die Zustimmung erzwingen, weil ein Bauvorbescheid vorliegt. Am liebsten wäre dem Herrn eine sachliche Auseinandersetzung, in einer ruhigen Stunde.
Die Bauern streuen Ochsenkacke aufs Feld, weil sie wissen, dass das für den Boden gut ist, weil die Ernte dann besser ausfällt.
Der Landkreis will einen Turm bauen, weil ein Landschaftsplaner ein Bild in die Köpfe gezeichnet hat. Der Herr erzählt mir von diesem Bild. Es geht so: Wenn da unten auf der Landstraße zwischen Belzig und Wiesenburg der Reiseleiter zu seiner Berliner Busladung sagt: „Na wollt ihr ma von obn auf Balin kieken?“ dann rufen alle begeistert „ja“ und der Bus biegt mit Düsenantrieb ab zum Aussichtsturm. Der Herr lächelt mich jetzt an.
Er lächelt auch, als ich ihn frage, woher er weiß, dass man von da oben, in 25 Metern Höhe, tatsächlich bis nach Berlin sehen kann. Sein Vorgänger, erzählt er mir, ist einst mit dem Feuerwehrauto auf den Hagelberg gefahren und hat so lange die große Leiter ausfahren lassen, bis er über die bewaldeten Höhen des Flämings hinwegsehen konnte. „Und, haben sie wirklich Berlin gesehen?“, frage ich nach. Der Herr lächelt jetzt wie ein Kind. Wie mein Sohn, wenn er sich über etwas freut. „Ja, er sagte mir, ja. Bis nach Berlin.“
Wieso freut er sich so darüber? Was soll daran so toll sein, wenn man von Hagelberg bis nach Berlin schauen kann?
Der Berliner fährt doch aufs Land nicht wegen der Aussicht, sondern wegen der Ochsenkacke. Wegen der unberührten Landschaft im Naturpark Hoher Fläming, wegen der Abgeschiedenheit, weil er seine Stadt mal ein paar Stunden vergessen will, und erleben, dass es noch etwas anderes gibt als seine Stadt, dass es noch echt nach Ochsenkacke stinkt, wenn man aufs Land fährt, fast wie früher.
Die Aussicht auf seine Stadt ist vom Fernsehturm am Alex viel besser, und sogar vom Dach des Reichstags aus, wo es nicht einmal Eintritt kostet, sieht man über ganz Berlin. Vom Hochbunker auf dem Wedding, vom obersten Stock des Bahngebäudes, vom Funkturm an der Messe, von jedem Kirmes-Riesenrad sieht man über Berlin hinweg.

Aber den Hagelberg, diesen sanften, unversehrten Rücken, das große schlafende Tier im Herzen des Hohen Fläming, gibt es nur einmal zu sehen.

Dienstag, 17. Februar 2009

März bis Oktober

Wenn ich aus dem Fenster schaue, liegt dort Schnee, wie auf den Fotos im Januar. Immer, wenn der Schnee schmolz, dachte ich, jetzt sollte ich neue Fotos ... von der Schneeschmelze ... oder sogar einen Text veröffentlichen. Das stimmt sonst alles nicht mehr, dachte ich. Aber dann schneite es in den nächsten Stunden. Und jetzt liegt auf einmal wieder so viel Schnee, als wäre die Zeit in den letzten sechs Wochen still gestanden.


Dabei ist wie immer so einiges passiert: Eine üble Viren-Attacke auf den Magen-Darm-Trakt, im Kino gewesen ("Benjamin Button") und ein Berlinale-Trip, Grundschul-Besuche und unzählige Schulgespräche, Schwitzhütte im Schnee, Aggression & Hingabe unter Männern, Laufen auf Eis, "Populärmusik aus Vittula" zu Ende gelesen, Bau einer Lego-Öl-Plattform und ein echter leerer Öltank, Beginn des Schreibkurses "Erotisches Schreiben", ein neuer blutjunger Schornsteinfeger mit einem lindgrünen Wollkäppi ... und all das, was jeden Tag passiert, was mir in diesem Augenblick nicht mal als Stichwort einfällt, all das was wirklich wichtig war, die kleinen Sätze und entrückten Gesten, ein Lächeln, eine Schneeflocke, die genau auf die Nasenspitze traf, der Moment, wo ein überraschendes Fundstück das gesamte Leben erhellte.

Neben meinem Arbeitsplatz hängen, auf Papier gedruckt, schon lange zwei Sätze von Jorge Luis Borges, die mich daran erinnern, was wirklich wichtig ist:

Und wenn ich noch einmal von vorne anfangen könnte, würde ich versuchen, weniger perfekt zu sein. Ich würde von März bis Oktober barfuß gehen, viel in Flüssen schwimmen und vor allem mit Kindern spielen.

Vor kurzem fand ich das ganze Zitat von Borges in einem Buch und las ...
Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte,
im nächsten Leben würde ich versuchen,
mehr Fehler zu machen.

Ich würde nicht so perfekt sein wollen,
ich würde mich mehr entspannen.

Ich wäre ein bisschen verrückter als ich gewesen bin,
ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen.

Ich würde nicht so gesund leben,
ich würde mehr riskieren, würde mehr reisen,
Sonnenuntergänge betrachten, mehr Bergsteigen,
mehr in Flüssen schwimmen.

Ich war einer dieser klugen Menschen,
die jede Minute ihres Lebens fruchtbar verbrachten.

Freilich hatte ich auch Momente der Freude.

Aber wenn ich noch einmal anfangen könnte,
würde ich versuchen nur mehr gute Augenblicke zu haben.

Falls du es noch nicht weißt, aus diesen besteht nämlich das Leben, nur aus Augenblicken.
Vergiss nicht den jetzigen.

Wenn ich noch einmal leben könnte,
würde ich von Frühlingsbeginn an bis in den Spätsommer barfuss gehen.

Und ich würde mehr mit Kindern spielen,
wenn ich das Leben vor mir hätte.

Aber sehen Sie ...

Ich bin 85 Jahre alt und weiß,
dass ich bald sterben werde.

Jorge Luis Borges starb 1986 mit 87 Jahren. Er wusste wovon er sprach.

Mittwoch, 7. Januar 2009