Donnerstag, 20. August 2009

Ausflug nach Baitz oder: Nicht von hier

Wer mit dem Zug von Berlin nach Belzig fährt, hält zwangsläufig in Baitz und wer sich nicht auskennt, wundert sich, dass der Zug einfach auf offener Strecke stehen bleibt. Nur wer zufällig in einem der vorderen Zugwagen sitzt, von denen aus man das graue Bahnhofsgebäude erblickt, kann den Halt einordnen. "Baitz" ist da zu lesen, auch wenn kein Dorf zu sehen ist.
Schnell heraus, bevor es zu spät ist!

Auch nachdem der Zug abgefahren ist, und die Sicht ringsum frei, ist das Rätsel kaum zu lösen. Da steht zwar der Bahnhof, der „zu verkaufen“ ist, wie ein Transparent lauthals verkündet. Und an der Straße, die Richtung Südwesten führt, lagert eine Handvoll Häuser. Aber diese versuchen gar nicht erst den Eindruck zu erwecken, als rechtfertigen sie einen Halt. Allein die Autos, die über die kleine Parkfläche hinausquellen, weisen darauf hin, dass dies kein Halt im Nirgendwo ist.

Baitz ist vom Bahnhof aus nicht zu entdecken.
Es liegt etwa einen halben Kilometer entfernt, durch einen Waldstreifen dem Blick verborgen, in einer sanften Mulde, von Feldern umschlossen. Wer mitten im Juli zu Fuß vom Baitzer Bahnhof ins Dorf läuft, erfährt etwas über den Reiz des langsamen Ankommens. Nach einer Biegung, mit der man den Waldstreifen hinter sich lässt, schält sich die Silhouette des Dorfes aus der dunstigen Spätvormittagshitze. Schnurgerade läuft der Weg auf das harmonisch anmutende Dorf mit dem jetzt weithin sichtbaren Kirchturm zu. Mit jedem Schritt wächst es deutlicher aus den Sonnenblumen- und Roggenfeldern. Nicht nur die Luft ist staubig wie in einem Western. Auch die Pferde, die auf der großen Koppel links des Dorfes grasen, verstärken die Stimmung irgendwo ganz anders, jedenfalls nicht in Brandenburg, zu sein. Tanzender Staub, glühende Stille und Erinnerungen an legendäre Italo-Western vermählen sich zu einer zeitlosen Atmosphäre. Flimmert da nicht der Horizont, so ähnlich wie über einem weiten trockenen Land am Rande des großen Wassers? Kreist da nicht ein Adler über der Prärie?
Aber es ist nur der Storch, der hier zuhause ist.

Am Ortseingang bellt ein verborgener Hund, in einem Garten strecken sich Ziegen und eine müde Gans im Schatten aus. Obwohl kein Mensch zu sehen ist, wirkt das Dorf dennoch belebt, etwa so, als hätten sich die Dorfbewohner gerade zum Mittagschlaf zurückgezogen. In der Dorfmitte ein typischer Platz mit Schatten spendenden Linden, eine Schaukel steht inmitten des grünen Dreiecks, das zerbrochene Fenster an dem beschmierten Buswartehäuschen erzählt, dass Recht und Sauberkeit hier nicht an erster Stelle stehen.

Geradezu lockt Dinos Biergarten, ein idyllisches Juwel unter den Dorfkneipen, direkt an einem Bach gelegen. Die Straße links hinein werden wir in der Naturwachtstation erwartet. Eine kräftige Frau, die „nicht von hier“, sondern aus dem etwa zehn Kilometer entfernten Kranepuhl stammt, empfängt uns freundlich und führt uns in die Miniausstellung mit liebevoll ausgestopften heimischen Tieren. Vor allem das Großtrappenmännchen und der Uhu beeindrucken durch ihre majestätische Größe. Während die Großtrappen eindeutig in den an Baitz anschließenden, geschützten Landschaftswiesen zu verorten (wenn auch nicht zu sehen) sind, ist der Aufenthaltsort der beiden Hoher-Fläming-Uhus ein Geheimnis. Einer, erfahre ich immerhin, lebt etwa in der Mitte des Naturparks. „In Wiesenburg also?“, frage ich nach.
„Da ist ja nicht die Mitte“, antwortet die Frau bestimmt.
„Wo liegt denn die Mitte? Bei Rädigke etwa?“
Die Frau schüttelt den Kopf und schweigt ansonsten.

Dann führt sie uns aus dem Dorf hinaus, über einen kleinen Bach, vorbei an zwei Ponys, in ein Waldstück, das nicht nur ortsüblich nach Kiefern, sondern intensiv nach Mittelmeer riecht.
Welch ein Ort, dieses Baitz! Direkt vom Wilden Westen geht es in den italienischen Süden. „Eine Wanderdüne“, erklärt die Frau sachlich, provisorisch festgezurrt von den Wurzeln bizarr gewundener, oft doppelstämmiger Kiefern, die für die Forstwirtschaft nichts hergeben. Der Sandboden ist flächig von Moosen und Flechten bedeckt, die Bäume stehen licht, da vorne hinter dem dünenartigen Hügel, da muss irgendwo ein verborgenes Meer sein. Schnaufend schieben wir uns die hohe Düne, auch „Fuchsberg“ genannt, hinauf. Enttäuschung macht sich breit. Kein Meer in Sicht. Nur ungewöhnlich stolze, solitäre Kiefern und samtene Stille. Aber dort, Richtung Nordwest, hinter dem lichtdurchfluteten Stück Wald, wo sich helle Gräserbüschel im Wind wiegen, dort könnte es sein: Das große Wasser.

Derweil lädt die Wanderdüne zur Hingabe ein: Sich flach zu legen und mit dem trockenen Boden zu verbinden; die Ameisenlöwen bei der Ameisenjagd zu beobachten, wobei sie eiergroße Trichterchen in den Boden saugen; oder den trockenen Wind auf der ganzen Haut zu spüren; auf die Dämmerung zu warten und zu schauen, ob wüstenähnlich bizarre Schattenbilder zu tanzen beginnen; oder einfach nur dazusitzen und vom Meer und seiner salzigen Weite zu träumen.

Durstig ziehen wir weiter, dem leuchtenden Horizont entgegen. Und tatsächlich: Hinter dem Wald erstreckt sich unübersehbar weit eine flache Landschaft, die bereits tiefer stehende Sonne glitzert zwischen locker hingestreuten Baumreihen. Kein Meer, aber dafür eine verwirrend vielschichtige, gemäldeartige Landschaft, skizzenhaft hingeworfen die Büsche und Feldgrenzen, nicht von ungefähr wirkt das Gelände wie von einem Architekten entworfen: Entwässerungsgraben durchziehen die Landschaftswiesen, das ehemalige Feuchtgebiet. Eine Art still gelegtes Meer. Hier leben nicht nur die seltenen Großtrappen, die sonst in Spanien und Russland heimisch sind, und einige Fischadler, sondern, auch, die fachkundige Frau verrät es uns, der König unter den europäischen Raubvögeln: Der Seeadler.

Hier fühle ich mich angekommen. In alle Himmelsrichtungen dehnen sich Seelenlandschaften aus. Die mediterrane Wanderdüne im Rücken, das Italo-Western-Dorf Baitz links von uns, rechts erstreckt sich ein dunkler Wald des Nordens und vor uns liegt die weite, von Wasseradern durchzogene Ebene, ein fruchtbares wildes Land.
Nicht von hier, aber ewig und tief in meine innere Landschaft eingraviert.
Nicht durch die aufgestellten Fernrohre, sondern am Himmel sehe ich den Seeadler kreisen, den gelben Schnabel fordernd vorgestreckt, das Halbrund der Schwanzfedern leuchtet hell.
Wilde Pferde jagen über die Stege.
Immer weiter, zwischen den funkelnden Gräben hindurch.

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